Hüte dich vor dem Einfluss der Masse
|Auf nichts musst du mehr Acht geben, als darauf, dass wir nicht nach Art des Viehs der Herde der Vorangehenden folgen, indem wir nicht den Weg nehmen, wo gegangen werden sollte, sondern jenen wo man geht.
Und nichts verwickelt uns in größeres Unglück, als dass wir uns nach dem Gerede der Leute richten und jenes für das Beste halten, was unter großem Beifall für gut befunden wird. In einem großen Menschengedränge lässt die Anhäufung von Menschen diese über den anderen stürzen, wenn die Menge sich staut, denn jeder fällt, indem er auch den anderen mitreißt.
Niemand irrt sich in einer Menschenmenge nur für sich allein, sondern ist Anlass und Urheber des Irrtums anderer. Es schadet nämlich, sich unüberlegt Vorangehenden anzuschließen. Und solange ein jeder lieber glauben will, als ein eigenes Urteil zu gewinnen, solange kommt es niemals zu einem Urteil über das Leben, sondern er folgt immer einer Meinung.
Das treibt das Volk um und stürzt es in den Abgrund, wegen dieses von Hand zu Hand weitergegebenen Irrtums. Wir werden nur gesunden, wenn wir uns von der Masse absondern. Aber dann steht die Volksmenge als Verfechter ihrer eigenen Verdorbenheit der Vernunft feindlich gegenüber. Das Volk wählt nur die Politiker, die die Volksmeinung vor sich her trägt und wundert sich hinterher, wenn die wetterwendische Gunst umschlägt und dasselbe gut geheißen wird, was zuvor getadelt worden ist.
Das ist das Ergebnis bei allen Entscheidungen, bei denen man sich nach der Mehrheit richtet. Hüte dich vor der Meinung der Masse. Hüte dich vor Populisten, die das Volk bereits nach ihrer Form geprägt haben. Wenn der Vorderste fällt, zieht er auch die Folgenden ins Verderben. (Frei nach Seneca über das rechte Leben).
1936 – Nur einer ließ den Arm unten
Als im Jahr 1936 auf dem Gelände der Werft von Blohm und Voss in Hamburg das Segelschulschiff der damaligen Kriegsmarine unter dem Namen „Horst Wessel“ zu Wasser gelassen wurde, war auch diesmal wieder wie bei anderen Stapelläufen Adolf Hitler zugegen. Selbstverständlich entrichtete ihm die für das Happening hinzu beorderte Belegschaft pflichtgemäß den Hitlergruß. Aber einer unter den vielen salutierenden Werftarbeitern erhebt nicht seine Hand, sondern hält seine Arme demonstrativ vor seiner Brust verschränkt.
Das jedenfalls zeigt ein Pressefoto von damals, das wohl Jahrzehnte später in den Kellerarchiven des Hamburger Rathauses gefunden und in den letzten Jahren aufgrund des sich verweigernden Handwerkers vielfach veröffentlicht wurde. Weil man nun gerne herausfinden wollte, wer dieser Mann war, der so mutig gegen den Strom schwamm, erließ das Hamburger Abendblatt am 15.11.1995 einen Aufruf, sich zu melden, falls Leser den Abgebildeten kennen sollten.
Und so stolperte auch ich am Morgen des 15.11.1995 beim Blättern im Hamburger Abendblatt über den Hitlergrußverweigerer, der auf dem Bild besonders hervorgehoben war. Ohne weiter hinzuschauen und zu lesen, worum es in dem Artikel eigentlich ging, rief ich spontan meiner überraschten Frau zu, dass ich meinen Vater entdeckt habe. Erst danach las ich die Überschrift: „1936 – Nur einer ließ den Arm unten“. Als ich dann auch noch den Artikel las, war ich der festen Überzeugung, meinen Vater Gustav Wegert, entdeckt zu haben. Denn er arbeitete genau in dieser Zeit bei Blohm und Voss als Schlosser und Schmied, was auch die anschließend gefundene Arbeitsbescheinigung im Original eindeutig belegte. Obwohl für mich kein Zweifel bestand, wartete ich ab, wer sich beim Abendblatt melden würde. Wenige Tage später berichtete die Zeitung, dass sich die Tochter eines Herrn August Landmessers gemeldet hatte, die in dem mutigen Mann auf dem Bild ihren Vater erkannt haben wollte. Im Zusammenhang damit veröffentlichte das Abendblatt auch die Verfolgungsgeschichte, die Herr Landmesser mit seiner jüdischen Verlobten vonseiten der Nazis zu erleiden hatte. Davon tief berührt, habe ich mich nicht mehr beim Abendblatt gemeldet, wiewohl ich nach wie vor davon überzeugt war, dass der Held auf dem Bild doch wohl Vater gewesen sein müsste.
Einige Jahre später jedoch hatte ich Kontakt mit der Historikerin Dr. Simone Erpel und las in ihrem Manuskript „Zivilcourage – Schlüsselbild einer unvollendeten Volksgemeinschaft“ (nachzulesen bei Gerhard Paul, Das Jahrhundert der Bilder 1900 bis 1949, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht 2009, Seite 494 rechte Spalte Absatz 2), dass die Suche des Hamburger Abendblatts nach dem Mann auf dem Foto trotz der Meldung der Landmesserfamilie ohne Erfolg geblieben war. Weiter war zu lesen: „Irene Eckler (Tochter von August Landmesser), die die Verfolgungsgeschichte ihrer Familie in der 1996 veröffentlichten Publikation „Die Vormundschaftsakte“ beschrieben hat, vermutete, dass ihr Vater 1939 als Strafgefangener für die Rüstungsproduktion auf der Werft Blohm und Voss gearbeitet hat. Ob er allerdings dort bereits zum Zeitpunkt der Aufnahme 1936 – also vor der Verhaftung – beschäftigt war, ist ungewiss. Obwohl also begründete Zweifel bestehen, wird die Präsenz August Landmessers auf dem Bild inzwischen als Fakt angesehen.„
Das ließ mich und inzwischen auch unsere Familie aufhorchen. Denn wenn die Beschäftigung von Herrn Landmesser bei Blohm und Voss nur Vermutung ist, ungewiss ist und begründete Zweifel bestehen, könnte es sich auf dem Bild doch um meinen Vater handeln.
Denn sein generelles Verhalten in der Nazizeit passt exakt zu dem Mann auf dem Foto. Sowohl mein Vater selbst als auch meine Mutter, sowie viele Freunde und auch ein Werftkollege erzählten mir immer wieder, dass Gustav nie die Hand zum Hitlergruss erhob. Das hatte er sich aufgrund seiner Aversion gegen das Naziregime von Anfang an zum Grundprinzip gemacht. Wenn ihn jemand mit „Heil Hitler“ grüßte, antwortete er mit einem einfachen „guten Tag“. Meine Mutter erzählte mir auch wiederholt von ihrer Sorge um ihren Mann. Denn sie befürchtete, dass er nach immer wiederkehrenden Warnungen eines Tages doch noch abgeholt werden könnte. Dass das nicht geschah, bezeichnete sie als ein Wunder der Bewahrung.
Mein Vater erzählte mir zudem noch, dass Hitler nicht nur zum Stapellauf der „Horst Wessel“, sondern auch zu Taufen anderer bedeutender Schiffe kam. Um gegen Kriegsende Produktivitätsverluste zu vermeiden, verlegte der Führer seine propagandistischen Stapellaufrituale jedoch auf den Sonntagmorgen. Da verweigerte Gustav nicht nur den Hitlergruss, sondern auch sein Erscheinen und ging nach dem Motto „du sollst Gott mehr gehorchen, als den Menschen“ lieber in den Gottesdienst.
Dass ihm kein größeres Übel von den Nazis widerfuhr, brachte er in Verbindung mit einem Vorgesetzten, der ihn immer wieder vorgeladen und gewarnt hatte, ihn aber dennoch latent deckte. Denn man brauchte auch Fachkräfte, weshalb Gustav später bei wiederholten Einberufungen zur Front jedes Mal von Blohm und Voss reklamiert wurde. Darum musste er – von den letzten Tagen des Volkssturms abgesehen – nie in den Krieg.
Da das gesellschaftliche Interesse an diesem couragierten Mann nach wie vor ungebrochen groß ist und sogar internationale Zeitungen die Story abdrucken, hat sich meine Familie entschlossen, die Geschichte meines Vaters bekannt zu machen. Weshalb Frau Dr. Erpel auch geschrieben hat: „Mittlerweile hat eine weitere Familie den Mann auf dem Foto als einen ihrer Verwandten identifiziert. Es soll sich dabei um Gustav Wegert (1890-1959) handeln, der von 1934 bis 1945 als Schlosser bei Blohm und Voss gearbeitet hat. Als gläubiger Christ habe er aus religiöser Überzeugung generell den Hitlergruss verweigert. Trotz seiner Distanz zum Nationalsozialismus, aus der er kein Hehl gemacht habe, geriet Gustav Wegert nicht ins Visier der NS-Verfolgungsbehörden. Zeitgenössische fotographische Porträtaufnahmen von Wegert und Landmesser belegen in beiden Fällen eine große Ähnlichkeit mit dem abgebildeten Werftarbeiter. Gegenwärtig muss offen bleiben, wer der Mann auf dem Foto war“ (nachzulesen bei Gerhard Paul, Das Jahrhundert der Bilder 1900 bis 1949, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht 2009, Seite 494 rechte Spalte Absatz 3).
Dem schließen wir uns an. Sind aber auf jeden Fall als Familie bis heute für die aufrechte Haltung unseres Vaters und Großvaters während der Nazizeit zutiefst dankbar.
Quelle: http://wegert-familie.de/home/Deutsch.html